Kaum ein Flugzeug hat die Passagierluftfahrt so nachhaltig verändert wie die 707. Der Einstieg Boeings in das Jet-Zeitalter markierte eine neue Ära und bescherte dem Unternehmen den ersten großen zivilen Erfolg. Vor 60 Jahren fand der Erstflug des Vierstrahlers statt. Boeing hatte einen Prototypen, der die Welt um den Faktor zwei schrumpfen ließ.“ So erinnerte sich Alvin […]

Kaum ein Flugzeug hat die Passagierluftfahrt so nachhaltig verändert wie die 707. Der Einstieg Boeings in das 
Jet-Zeitalter markierte eine neue Ära und bescherte 
dem Unternehmen den ersten großen zivilen Erfolg. Vor 60 Jahren fand der Erstflug des Vierstrahlers statt.

Boeing hatte einen Prototypen, der die Welt um den Faktor zwei schrumpfen ließ.“ So erinnerte sich Alvin „Tex“ Johnston an den Einstieg Boeings ins Zeitalter der Passagierjets. Der charismatische Testpilot hatte mit einem legendären Stunt am 7. August 1955 nicht unwesentlichen Anteil am Erfolg des 707-Programms. 

Zum Gold-Cup-Bootsrennen auf dem Lake Washington sollte er die neue „Dash 80“ präsentieren – den Prototyp, aus dem Boeing die Passagierversion 707 entwickelten sollte. Doch statt des geplanten Vorbeiflugs zeigte er über dem See, direkt hinter dem Boeing-Werk in Renton, eine Fassrolle! Nur wenige wissen, dass Johnston der Kunstflugfigur gleich darauf noch eine zweite folgen ließ. „Das ist eine Flugfigur mit einer Belastung von 1 g für das Flugzeug, überhaupt nicht gefährlich, aber sehr eindrucksvoll“, erklärte er Boeing-Präsident Bill Allen, als er wegen der unabgesprochenen Aktion zum Rapport in dessen Büro bestellt wurde. Allens Antwort: „Sie wissen das. Jetzt wissen wir es auch. Und nun machen Sie es nie wieder.“

 

Weshalb die Presse die Aktion Johnstons am Lake Washington so gut wie unbeachtet ließ, darüber ranken sich viele Gerüchte: Etwa, weil die 250 000 Zuschauer ihre Aufmerksamkeit auf das Bootsrennen gerichtet hatten, oder die Journalisten fast ausnahmslos Sportberichterstatter waren und gar nicht einschätzen konnten, was da gerade Unglaubliches geschehen war. Oder weil Boeing sogar Einfluss genommen hätte, dass Johnstons Alleingang, den er selbst seiner Crew erst nach dem Start angekündigt hatte, in der Öffentlichkeit nicht breitgetreten würde. 

Die Vertreter der Airlines, fast allesamt bei der Veranstaltung anwesend, waren dennoch beeindruckt. „Warum haben Sie nicht Bescheid gesagt? Ich wäre gern auf dem Jump Seat dabeigewesen“, soll Eastern-Airlines-Chef Eddie Rickenbacker Johnston gefragt haben. Pan American World Airlines bestellte gut einen Monat später, am 13. Oktober 1955, als Erstkunde gleich 20 Exemplare der neuen 707. 

Dass die Fassrolle ein solch großer Marketingerfolg werden würde, hat Boeing-Chef Allen nicht erahnen können. Denn eigentlich wollte der Flugzeughersteller alles andere, als dass sein erster ziviler Jet mit Husarenstücken in Verbindung gebracht würde. Flugzeuge wie die DC-7 oder die Super Constellation prägten mit ihren riesigen Kolben-Sternmotoren das Bild der Airlines – und Passagiere waren skeptisch, ob Flugzeuge ohne Propeller überhaupt ein sicheres Verkehrsmittel sein konnten. Die Befürchtungen waren Anfangs auch nicht ganz unberechtigt. Boeing war nicht der erste Herstelller, der mit einem Passagierjet auf den Markt kam. Die Briten hatten mit ihrer de Havilland DH 106 Comet bereits 1952 das Jet-Zeitalter eingeläutet, kämpften aber mit Problemen bei der neuen Art der Passagierfliegerei. Drei Abstürze wegen Strukturversagens erlitt die Comet 1954 – im selben Jahr, als Boeings Dash 80 am 15. Juli zum Erstflug abhob. Später wurde die Comet-Flotte aufgrund der Unfälle gar komplett stillgelegt. 

Dass Boeings Schritt ins Jet-Zeitalter nicht ganz ohne Risiko gewesen ist, war also eher eine Untertreibung. Die Amerikaner investierten über 16 Millionen US-Dollar in das Projekt, der Betrag entsprach dem kompletten Gewinn, den das Unternehmen seit Kriegsende 1945 mühsam erwirtschaftet hatte. Bill Allen, der seit dieser Zeit Boeing als Präsident geleitet hatte, war nicht für halsbrecherische Unternehmensentscheidungen bekannt – dennoch hielt er das 707-Projekt für unverzichtbar, um den Technologieanschluss nicht zu verlieren. 

 

Auch militärischer Nutzen

Und Boeing hatte dabei nicht nur den zivilen Markt im Blick: Das Flugzeug sollte auch den Luftstreitkräften als Tanker dienen. Nicht zuletzt deshalb erhielt die 707 als Dash 80 zunächst die Typenbezeichnung 367 – eben jene, die auch der von vier Kolbenmotoren des Typs Pratt & Whitney R-4360 Wasp Major angetriebene Militärfrachter Stratofreighter trug. Hatte das US-Verteidigungsministerium zunächst noch wenig Interesse an dem Projekt, weshalb Boeing die Investitionen für die Dash 80 anfangs allein stemmen musste, so platzierte es schon einen Monat nach dem Erstflug die erste Bestellung. Über 800 der KC-135 Stratotanker wurden für das US-amerikanische Militär gebaut, bis heute ist das Flugzeug Teil der Luftbetankungsflotte. Auch die markanten AWACS-Frühwarnflugzeuge beruhen auf der Dash 80. 

 

Erstflug der zivilen 707 war am 20. Dezember 1957. Im Gegensatz zum Prototyp Dash 80 erhielt die 707-120 nun 40 Zentimeter mehr Spannweite und war rund fünf Meter länger. Auch der Rumpfquerschnitt wurde im Vergleich zum Vorserienmodell auf 3,76 Meter vergrößert. Den Airlines gab dies die Möglichkeit, bis zu sechs Passagiere nebeneinander unterzubringen. Die 35-Grad-Pfeilung der Tragfläche bereitete zunächst vielen Piloten Probleme, die zuvor nur Propellermaschinen mit geraden Flügeln geflogen hatten: Sie führte zu einem Pendeln um Hoch- und Längsachse, das sich gefährlich aufschaukeln konnte. 

 

Konkurrenz durch DC-8

Erstkunde Pan American Airways hatte zu seiner 707-Bestellung gleichzeitig bei Douglas 25 DC-8 geordert. Andere Airlines wie Delta oder United waren dem Boeing-Konkurrenten zunächst gänzlich treu geblieben. Der Ruf von Douglas war ausgezeichnet, das Unternehmen hatte sich nach dem Krieg mit seinen Propellermaschinen DC-6 und DC-7 fest in der Passagierfliegerei etabliert – ganz im Gegensatz zu Boeing, die bis dahin nur 56 Exemplare ihrer 377 in die Luft gebracht hatten.

Dennoch besaß Boeing mit der Indienststellung der 707 bei Pan Am im Oktober 1958 ein Jahr Vorsprung zu Douglas. Deren DC-8 nahm bei Erstkunde United erst im September 1959 den Betrieb auf. Boeing-Kunden gewannen dadurch Marktanteile vor allem auf den transkontinentalen Strecken. 

Denn die Vorteile des Jets über die Propellermaschinen waren im Airline-Geschäft unübersehbar: Sie transportierten fortan doppelt soviele Passagiere in der Hälfte der Zeit. Die Boeing 707: Sie war der Beginn der Einführung der Touristenklasse in der Kabine und damit der Demokratisierung des Luftverkehrs. Innerhalb eines Jahres sanken die Ticketpreise um 25 Prozent. Gleichzeitig stieg der Komfort – die 707 war leiser als frühere Kolbenmotorflugzeuge, flog in großen Höhen ruhiger über dem Wetter und bot viel mehr Platz.

 

Erste Turbofans

Angetrieben wurde die 707 zunächst von Pratt & Whitney JT3C Turbojets. Es waren dieselben Motoren, die als J57 im Bomber B-52 verbaut wurden: reine Jettriebwerke, ohne Fanstufe und Nebenstromverhältnis. Auch Zapfluft für die Kabine war damals noch unbekannt, die Bedruckung geschah durch zusätzliche mechanische Gebläseturbinen, die je nach Modell an zwei oder drei der Triebwerke angebracht waren. Erst mit den B-Varianten der 707-Reihe hielt der JT3D-Turbofan Einzug, das Antriebskonzept, das neben dem Vorschub des Jettriebwerks den Nebenstrom der Fanstufe für den Vortrieb nutzt. Sie sorgt für eine deutliche Effizienzsteigerung des Antriebs. Im Vergleich zu heutigen Motoren mit ihren beeindruckenden Triebwerks-Durchmessern wies der 707-Antrieb noch ein bescheidenes Nebenstromverhältnis von 1:1,37 auf.

 

Trotz des offiziellen Produktionsendes 1979 wurde die letzte 707 übrigens erst 1994 ausgeliefert – Kunde war die U.S. Air Force. Dort flog die Maschine auch in einer VIP-Konfiguration als Air Force One. Alles in allem hatten am Ende 1010 Flugzeuge das Boeing-Werk in Renton verlassen. 

Heute sind die 707 zu einem seltenen Anblick geworden. Immerhin: 20 zivile Flugzeuge sind derzeit nach wie vor in den USA registriert. Einer der prominentesten 707-Besitzer ist der Schauspieler John Travolta. Seine private 707-138B stand ursprünglich im Dienst von Quantas, dem ersten nicht-amerikanischen Betreiber des Musters. Heute trägt sie – selbstverständlich – das Rufzeichen N707JT und ist direkt neben Travoltas Villa in Ocala, Florida geparkt. Von dort führt ein Rollweg direkt zur Runway des benachbarten Graystone Airport.

Bill Allen hat Tex Johnston seinen Alleingang über dem Lake Washington übrigens niemals wirklich verziehen: Jahrelang weigerte er sich, über das Thema zu sprechen. Zu seinem Abschied von Boeing bekam er 1980 das berühmte Bild geschenkt, das Testingenieur Bel Whitehead aus dem Flugzeug von der Fassrolle machte. Mit nach Hause genommen hat Allen das Geschenk nie. Als er den offiziellen Empfang zu seinen Ehren verließ, hat er das Bild einfach stehengelassen.